G. Emmenegger: Wie die Jungfrau zum Kind kam

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Titel
Wie die Jungfrau zum Kind kam. Zum Einfluss antiker medizinischer und naturphilosophischer Theorien auf die Entwicklung des christlichen Dogmas


Autor(en)
Emmenegger, Gregor
Reihe
Paradosis. Beiträge zur Geschichte der altchristlichen Literatur und Theologie
Erschienen
Fribourg 2014: Academia Press
Anzahl Seiten
355 S.
von
Anneliese Felber

Bei der Arbeit handelt es sich um eine an der Universität Fribourg approbierte Habi-litationsschrift, die das Ziel verfolgt, die «direkte Einwirkung von medizinischem Wissen auf die Entwicklung christlicher Glaubensinhalte» (3) zu untersuchen. Dies zeigt Verf. an drei Themen: 1. dem Zusammenhang von Geschlecht und Erlösungsfä-higkeit anhand der Gestalt der Maria Magdalena (Kap. IV), 2. an Zeugung und Geburt des Gottmenschen Jesus Christus (Kap. V), 3. an der Jungfräulichkeit Mariens, be-sonders die virginitas in partu betreffend, in Kap. VI. Die Kapitel I–III befassen sich mit den medizinischen Schulen der Antike und dem (positiven) Verhältnis von Christentum und Medizin. Die Arbeit schliesst mit einer Zusammenfassung (Kap. VII) sowie einem umfangreichen Anhang (265–355) mit Abbildungs- und Quellen- bzw. Literaturverzeichnis und verschiedenen Registern (auch zu griechischen und lateinischen Begriffen).
Für alle kulturwissenschaftlich Interessierten ist die Lektüre der Eingangskapitel zu empfehlen. Kap. II (7–18) gibt einen konzisen Überblick zu den medizinischen Schulen (wie Dogmatikern und Empirikern), zum hippokratischen Corpus, Aristote-les, Soran von Ephesus (um 100), Galen von Pergamon (2. Jh. n. Chr.), zu sakraler Heilung (Tempelmedizin) wie auch Volksmedizin. In Kap. III (19–66) thematisiert der Verf. das Verhältnis des Christentums zur Medizin, beginnend im AT mit Gott als Heilendem, Krankheit als dämonischer Besessenheit, vor allem aber Philos positive Haltung zur Medizin, die auch die Position der christlichen Autoren bestimmt. Kul-turgeschichtlich wiederum interessant ist das Kapitel zur Medizin in den Evangelien (mit Fokus auf Rettung der Seele). In der Rezeption dominieren die Fragen nach dem rechten Gebrauch wie den Grenzen der Anwendung (parmakon ist Heilmittel, aber auch Gift). Medizin gilt als Geschenk Gottes bzw. als «kleine Schwester der Erlö-sung» (41). Trotz Ausnahmen ist ein positives Verhältnis zur Medizin auch im aske-tischen Milieu gegeben (mit Fokus auf Diätetik).
Nun kommt der Verf. zum ersten Thema, an dem seine These der Einwirkung medi-zinischer Vorstellungen aufgezeigt wird, nämlich der Heilsfähigkeit von Frauen mit der Exponentin Maria von Magdala. Dieses Kapitel, um es vorwegzunehmen, wirft viele Fragen auf. Es sei unbestritten, dass Weiblichkeit quasi als Geburtsfehler in der klassischen Theologie betrachtet wird. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, warum Galen, der immerhin eine paritätische Samenlehre (96) vertritt, dafür verantwortlich gemacht wird (71) und nicht Aristoteles, zumal der Autor einschlägige Arbeiten von Kari Børresen anführt, und warum dies an Maria Madalena exemplifiziert wird und nicht grundsätzlicher an «Eva» und der Rezeption zu Gen 1–3, zumal der Verf. bei den (gnostischen) Texten zu Maria Magdalena sprachliche Unsicherheiten zu klären hat. Vor allem aber würde ich die Aussagen vom «Männlichwerden» gerade nicht an der Biologie festmachen, sondern am sozialen Geschlecht (Gender). – Hier wäre auf jeden Fall in der Literatur die umfangreiche Studie von Andrea Taschl-Erber, Maria von Magdala – erste Apostolin? Freiburg: Herder 2007 zu ergänzen.
In Kap. V (87–196) widmet sich der Autor umfassend der antiken Embryologie, die er auf Zeugung und Geburt Christi anwendet. Dabei kommen nicht nur Aristote-les zur Sprache, sondern auch die Vorstellungen einer Empfängnis ohne Paarung (Windeier), betreffend Stuten, Geier, Hühner, Frauen und den Phönix, die Theorie einer Urzeugung sowie die stoische Vererbungslehre mit Blick auf Tertullian, um dann deren Rezeption in der Bibel (Weish 7,2; Hebr 11,11) und bei Philo zu zeigen, vor allem aber die Anwen-dung auf die Geburt Christi: Lk 1,34–38; Joh 1,12–14; Gal 4,4–5; Röm 1,3. Hervor-heben möchte ich den medizinischen Terminus für Empfängnis in Lk 1,31 und das, was S. 119 A. 153 zur Empfängnis durch das Ohr erklärt wird. Dann geht es ans Ein-gemachte: Ausführlich wird dargelegt, wie auf naturphilosophische Vorstellungen rekurriert wird, um gegen Doketismus und Adoptianismus Jesu natürliche Genese und Inkarnation zu erklären (vor allem Tertullian, Origenes), die allerdings ab dem 4. Jh. immer mehr zum Problem werden, wenn es um die Integrität und Einheit beider Naturen geht (Arius, Apollinaris: Mischwesen) und deren Begleitprobleme (Fragen zur Seele und einer doppelten Zeugung), sodass sich Christologie und Embryologie immer mehr entkoppeln. – Vorsicht wäre geboten gewesen beim Gebrauch des Termi-nus «Häresie», da erst rückblickend eine Scheidung in Orthodoxie und Heterodoxie möglich ist.
Die letzte Anwendung medizinischer Vorstellungen erfolgt auf die Jungfräulich-keit Mariens in Kap. VI (197–256). Ausgehend von Jungfräulichkeit als sozialem Begriff erörtert der Verf. dazu die Fragen aus der Medizin, die (umstrittene) Existenz eines Hymens (vgl. Soran) und als anatomisches Kennzeichen der Jungfräulichkeit, was erst um 400 durch den Vergilkommentator Servius zu belegen ist. Dankenswert-erweise stellt Verf. fest, dass dieser Mythos die nachfolgenden Jahrhunderte domi-niert und bis heute Spuren zeigt (202). Manualinspektionen wiederum sind nur für den Westen bezeugt. Dazu untersucht der Autor eingehend und in erhellender Weise die Passage aus dem Protevangelium des Jakobus (Kap. 19–20, vgl. Abb. 4–8) mit dem Fazit, dass die opinio communis zu widerlegen ist, dass es hier um Hymen und Jungfräulichkeit gehe – es geht vielmehr um die Frage, ob eine Geburt stattgefunden hat. Für das ProtEv Jacobi mit seiner doketischen Christologie (Jesus kommt in einer Theophanie) ist keine natürliche Geburt vorstellbar, dagegen belegt Clemens von Alexandrien als erster, dass die meisten Maria für eine Wöchnerin halten. Weitere Apokryphentexte werden aufgeführt, wobei es OdSal 19 bei M. Lattke S. 79 aller-dings heißt: weil er sie lebendig erhielt wie ein (nicht einen) Mann mit Erklärung in der Anmerkung: Gott als männliche Hebamme. Zwischen Origenes (die Ver¬einigung mit einem Mann beendet die Jungfräulichkeit, Lk. hom. 14,7f, Zachariaslegende S. 226f) und dem Konzil von Chalzedon wird dann allerdings die Virginität auf den Körper bezogen und auch post partum festgehalten, wodurch sich das Problem mit den Geschwistern Jesu ergibt (Origenes, S. 230–232). Im Zuge dessen wird das Protev Jacobi neu interpretiert, auf Untersuchung des Hymens hin, wie es bei Zeno von Verona fassbar wird (Tract. I 54, S. 242). Was in diesem Kapitel als Desiderat bleibt, ist, bei der häufigen Verwendung von rein/unrein und Befleckung eine Klärung anzu-bringen, wie das (nicht) zu verstehen ist.
Die Arbeit ist gut lesbar trotz mancher schwieriger, ja abstruser Gedankengänge in Bezug auf Biologie und Reproduktionsvorstellungen. Diese Lesbarkeit resultiert auch daraus, dass der Verf. die Quellen im Haupttext durchgängig in Übersetzung präsentiert, für die Vertiefung den Originaltext (einschließlich des Koptischen und Syrischen) in den An¬mer¬kungen bietet. Die Arbeit ist formal ansprechend und nahe-zu frei von Druckfehlern (Schönheitsfehler: ein «caro spiritalis» S. 130 A. 215). Das Verdienst liegt darin, eindrück¬lich aufzuzeigen, wie theologische Inhalte durch medi-zinische (Allgmein-)Kennt¬nisse bedingt sind und nur so verstanden werden können – damit hat der Verf. klar Neuland betreten und einen unschätzbaren Beitrag geleistet, theologische Wahrheiten nicht im luftleeren Raum, sondern in ihrem historischen Kontext zu verorten.

Zitierweise:
Felber, Anneliese: Rezension zu: Emmenegger, Gregor: Wie die Jungfrau zum Kind kam. Zum Einfluss antiker medizinischer und naturphilosophischer Theorien auf die Entwicklung des christlichen Dogmas, Fribourg 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 110, 2016, S. 473-474.

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